Contergan

Rezension aus Deutschland vom 22. April 2017

== Der Film ==

10 Jahre ist es her, daß dieser Film im deutschen Fernsehen lief. Mittlerweile ist er auch auf DVD erhältlich - und auf Youtube zu sehen.

Eigentlich erstaunlich, daß erst so spät ein Spielfilm zu diesem Thema gedreht wurde. Der Produzent Michael Souvignier, der Regisseur Adolf Winkelmann und der Drehbuchautor Benedikt Röskau nahmen sich des Themas an, der Zweiteiler „Eine einzige Tablette“ und „Der Prozeß“ (jeweils 90 Minuten lang) sollte im Herbst 2006 in der ARD gezeigt werden. Zur Ausstrahlung kam es aber erst 2007 – wegen eines Rechtsstreits mit der Firma Grünenthal, die erwirken konnte, daß im Vorspann betont wurde, die Handlung des Filmes sei weitgehend fiktiv.

== Contergan ==

Der Skandal um das Medikament Contergan bzw. seine schrecklichen Nebenwirkungen – wer hätte nicht davon gehört? Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre kamen in Europa tausende Kinder mit Mißbildungen zur Welt, die meisten davon in Deutschland, weil die Mütter gegen Schlafstörungen und morgendliche Übelkeit Contergan genommen hatten. „Thalidomid“ heißt der Wirkstoff, der die Schäden im Mutterleib verursachte – keine oder stark verkürzte Arme bzw. Beine, keine Ohren, deformierte Speiseröhren oder Herzfehler sind nur einige der fatalen Nebenwirkungen, die die Substanz hatte. Geistig waren jedoch die meisten dieser Kinder völlig normal und entwickelten sich besser als erwartet, viele meisterten ihr Leben auf bewundernswerte Weise und tun es heute noch.

Heute sind sie alle über 50 und haben immer noch zu kämpfen, wenn nicht sogar noch mehr als früher – Entschädigungszahlungen sind längst aufgebraucht – der Zwang zu unnatürlichen Körperhaltungen beim Gebrauch der Füße für Tätigkeiten, die normalerweise mit den Händen verrichtet werden, schädigt auf Dauer die Wirbelsäule – ganz zu schweigen von den ersten Beschwerden des Alters.

== Die Handlung ==

Köln 1961: Die beiden jungen Anwälte Horst und Paul eröffnen gemeinsam eine Kanzlei. Sie blicken zuversichtlich in die Zukunft und haben auch allen Grund dazu – die Wirtschaft brummt, und zu den Klienten der Kanzlei gesellt sich bald der Arzneimittelhersteller Grünenthal, der soeben ein neues Schlafmittel auf den Markt gebracht hat – „Contergan“. Das Medikament wird ein Hit und scheint völlig harmlos zu sein – im Gegensatz zu anderen Schlafmitteln hat es keine tödliche Dosis. Beide Anwälte sind frisch verheiratet, die Ehefrauen Hanna und Vera kümmern sich um das traute Heim, genießen den neuen Wohlstand und die neuesten technischen Errungenschaften. Für Paul und Vera ist das Glück perfekt, als sich Nachwuchs ankündigt, doch Vera leidet an Schlafstörungen und nimmt auf Anraten ihres Arztes Contergan – nur eine einzige Tablette, ein einziges Mal …

Eines Tages flattert ein verstörender Fall auf Pauls Schreibtisch – Scheidung wegen der Geburt eines behinderten Sohnes, der kleine Junge hat keine Beine! Wie konnte es dazu kommen? Paul ist entsetzt – er ahnt nicht, was auf ihn und seine Frau zukommt. Wenig später wird seine Tochter Kathrin (Denise Marko) geboren, die keine richtigen Arme und nur ein Bein hat.

Für die kleine Familie brechen harte Zeiten an. Paul erkennt eine „merkwürdige Ähnlichkeit“ mit dem Fall des kleinen Jungen, der ohne Beine geboren wurde. Die Mutter hatte Contergan genommen, ebenso wie Vera. Nach und nach kommen sie in Kontakt mit immer mehr Familien, in denen ebenfalls mißgebildete Kinder geboren wurden. Was ist der Grund? Langwierige, mühselige Nachforschungen ergeben, daß die Mutter in allen Fällen zu Beginn der Schwangerschaft Contergan genommen hat. Es kommt zu Spannungen zwischen Paul und Vera, er wirft ihr vor, das Medikament genommen zu haben, sie verlangt von ihm, herauszufinden, wie Contergan wirkt – eine schier unmögliche Aufgabe für einen Nichtmediziner.

Dann ist da das Leben mit einem behinderten Kind. Die kleine Kathrin entwickelt sich gut, sie ist geistig völlig normal und kann fast alles mit dem Fuß, wofür andere beide Hände brauchen – aber in der jungen Bundesrepublik sind die Rechte von Behinderten noch kein Thema. Schon im Krankenhaus fallen verächtliche Worte wie „Krüppel“ und „Kreatur“ - und der Ratschlag, das Kind in einem Heim abzuliefern. Später will kein Kindergarten Kathrin aufnehmen, sie feiert Geburtstag und keine der eingeladenen Freundinnen erscheint …

Nach dem einsamen Geburtstag beschließen Paul und Vera, den Arzneimittelhersteller zu verklagen. Ein jahrelanger zermürbender Kampf gegen den Pharmakonzern beginnt – Paul überwirft sich mit seinem Kollegen, und auch die Ehe der Wegeners gerät in eine schwere Krise...

== Das Besondere ==

des Films ist das „Setting“ und die Schauspieler.
Gleich zu Beginn fühlt man sich in eine andere Zeit versetzt – nach allem, was ich gelesen habe, ging es dem Regisseur nicht „nur“ um die Darstellung eines medizinischen Skandals, sondern um ein „Sittengemälde“, in dem die Zeit der Handlung genau abgebildet wird. Ich habe die 1960er Jahre nicht erlebt und kam mir beim Ansehen des Filmes vor wie in einer anderen Welt. Die kleinen Unterschiede zu heute – Frisuren, die Kleider, die Tapeten … die Anschaffung eines Fernsehers ist ein Riesenereignis … und die großen Unterschiede: eine Frau wird „schuldig geschieden“, weil bei einer Scheidung noch die Schuld am Scheitern der Ehe erörtert wird … schon für diesen Einblick in eine andere Zeit lohnt sich der Film. Alles so haarklein darzustellen, muß eine Riesenarbeit gewesen sein.

Der Film ist bis in die Nebenrollen phantastisch besetzt – viele der Darsteller hätten einen größeren Auftritt verdient, aber die Zeit war ja leider begrenzt.

Benjamin Sadler spielt den Anwalt und betroffenen Vater Paul Wegener. Er ist seit langem einer der bekanntesten Schauspieler Deutschlands, auch wenn kaum jemand seinen Namen kennt. Angefangen hat alles mit einer schwachsinnigen Serie auf RTL, es folgten Komödien und Liebesfilme, dann kamen anspruchsvolle Rollen - „Paul Wegener“ ist zweifellos eine davon. Er verkörpert den Anwalt, der mit einer ganz normalen beruflichen Laufbahn gerechnet hat und sich plötzlich einer Mammutaufgabe gegenübersieht.

Katharina Wackernagel spielt Paul Wegeners Frau und die Mutter der contergangeschädigten Tochter – auch sie wird durch Kathrins Geburt aus ihrem Alltagsleben gerissen. Die durchschnittliche Hausfrau mutiert zur Löwenmutter, die für die Rechte ihres Kindes kämpft. Die Szene, in der Paul und Vera ihr Kind zum erstenmal sehen, schockiert sind und es trotzdem vom ersten Augenblick an lieben, ist tatsächlich herzzerreißend.

Der eigentliche Star des Films ist natürlich die Darstellerin der Kathrin. Man brauchte man ein Kind ohne Arme – und fand eines in Denise Marko, einem Mädchen aus Bayern, damals 11 Jahre alt. Sie hat von Geburt an keine richtigen Arme und nur ein Bein – natürlich nicht durch Contergan verursacht, auch nicht durch andere Medikamente, sondern durch einen Gendefekt. Wie soviele Behinderte meistert sie ihr Leben auf eine Art, die sich Nichtbehinderte nicht vorstellen können – man sieht es im Film, und auch im Internet findet man eine Menge Informationen über sie. Sie ist heute über 20, hat Arbeit, den Führerschein, einen Freund – ein fast normales Leben ohne Arme und mit nur einem Bein – unglaublich, aber wahr. Natürlich kommt ihr auch zugute, daß sich Behinderten heute anders begegnet wird und Barrierefreiheit ein großes Thema ist. „Krüppel“ und „Kreatur“ sagt jemals keiner mehr; wieviele Leute es noch denken, möchte ich gar nicht wissen.

Hervorheben sollte man auch den Gegenpart, Pauls anfänglichen Freund und späteren Widersacher Horst, dargestellt von Hans Werner Meyer, der die Seiten wechselt. Natürlich verkörpert er den Unsympathen, aber hassen kann man ihn trotzdem nicht. „Horst“ hat sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet, reich geheiratet – und Glück gehabt, weil SEINE Tochter nicht betroffen ist. Er konnte seine Frau noch rechtzeitig vor der Einnahme der verhängnisvollen Tablette warnen, und der Zuschauer erlebt seine Erleichterung, als sein Kind ohne Fehlbildungen zur Welt kommt. Er fürchtet um seine Existenz und entscheidet sich anders als Paul für den Weg des geringsten Widerstandes – so würden es wohl die meisten Leute machen; verurteilen kann ich ihn nicht.

Fazit: Einer der besten Filme, die ich je gesehen habe - die Auszeichnung mit dem "Bambi" war mehr als verdient.
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