Alexander Horn: Die Logik der Tat - Erkenntnisse eines Profilers

Rezension aus Deutschland vom 18. November 2017 (Amazon.de)

Den Beruf des "Profilers" kennen die meisten Leute aus amerikanischen Fernsehserien - aber mittlerweile begegnet man im deutschen Fernsehen auch gelegentlich echten Profilern. Sie schildern ihre Arbeit, die sich von der der Fernsehkollegen erheblich unterscheidet; bekannt geworden sind vor allem Axel Petermann und Alexander Horn, und offiziell heißen sie "operative Fallanalytiker" - ein etwas sperriger Begriff, mit dem man, wie Horn in seinem Buch zu Recht feststellt, keine Zuschauer vor den Bildschirm locken würde.

Alexander Horn ist 44 Jahre alt und leitet die Abteilung Operative Fallanalyse (OFA), Kommissariat 115 am Polizeipräsidium München. Die Erfahrungen, auf die er zurückblicken kann, würden Bände füllen, bisher ist es aber nur einer - er heißt "Die Logik der Tat. Ein Profiler auf der Spur von Mördern und Serientätern" und ist 2016 bei Knaur erschienen.

Alexander Horn war mir kein Unbekannter; 2011 habe ich ihn zum erstenmal im Fernsehen gesehen, in einer Sendung über einen Serienmörder, den sogenannten "Maskenmann", der drei kleine Jungen ermordet und zig weitere mißbraucht hat. Der Täter war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefaßt, erst nach der Sendung erinnerte sich ein längst erwachsenes Opfer, daß ein Betreuer in einem Ferienlager ihn nach seiner Wohnsituation ausgefragt hatte - und erkannte den Zusammenhang. 20 Jahre lang hat dieser Mann sein Unwesen getrieben und Norddeutschland unsicher gemacht; zwei Taten ereigneten sich in der Nähe meines Heimatortes - als ich von der Festnahme des Mörders hörte, mußte ich mich mit weichen Knien hinsetzen, die Erleichterung war einfach überwältigend. Daß er 20 Jahre unentdeckt blieb, obwohl er hohe Risiken eingegangen ist (Einbrüche in Wohnungen usw.), hat viele Gründe - Kindern wurde nicht geglaubt, Zusammenhänge nicht erkannt, die Kooperation der Polizeidienststellen war mangelhaft etc. Von Horns Auftritt in besagter Sendung war ich übrigens wenig beeindruckt; es kam mir vor, als hätten die Vertreter seiner Zunft nur Allgemeinplätze zu bieten. "Der Täter ist ein Mann und wirkt auf seine Umgebung ganz normal" - diese Schlüsse hätte jeder Schulanfänger ziehen können. Außerdem lagen die Experten gleich zweimal daneben; der "Maskenmann" ist NICHT der Mörder zweier Jungen in Frankreich bzw. den Niederlanden, wie man heute weiß. Alles denkbar ungeeignet, um Interesse an der Fallanalyse zu wecken.

Aber dann bin ich auf Amazon über Horns Buch gestolpert und habe die ausschließlich positiven Rezensionen gelesen. Die machten mich stutzig - Profiling scheint doch etwas mehr zu sein als Küchenpsychologie. Und Horn hat sich mittlerweile auch an den Auftritt vor der Kamera gewöhnt - er wirkt jetzt wesentlich entspannter als noch vor 6 Jahren. Ach ja, die grauen Haare stehen ihm auch gut. =)

== Was tun Fallanalytiker (nicht)? ==

»Neue Ideen setzen sich in drei Stufen durch, zunächst werden sie belächelt, anschließend heftig bekämpft und schließlich als selbstverständlich angenommen.« Dieses Zitat ist von Schopenhauer, und Alexander Horn glaubt, mittlerweile bei Stufe 3 angekommen zu sein. Aber der Weg dorthin war steinig - schon 2006 war er z. B. zu dem Schluß gekommen, daß die sogenannten NSU-Morde einen fremdenfeindlichen Hintergrund haben, aber er fand lange kein Gehör. Ein "Minenfeld" sei dieser Fall, sagt Horn.

Mit welcher Sorte Mensch haben Fallanalytikern zu tun? Ihre Klientel sind Mörder, Vergewaltiger, Serientäter, häufig auch alles zusammen.
Fälle, in denen die Polizei mit Spurensicherung, Rechtsmedizin, Zeugenbefragungen etc. an ihre Grenzen kommt.

Die Fallanalyse ist keine Hexerei - die Analytiker sind selbstverständlich nicht mit übernatürlichen Gaben ausgestattet, sie haben keine Visionen am Tatort, und auch die Intuition ist mit Vorsicht zu genießen. Horn schildert einen tragischen Fall in Großbritannien, in dem sich ein Profiler auf sein Bauchgefühl verließ und die Polizei ihm blindlings folgte. Ein Unschuldiger geriet so ins Fadenkreuz der Ermittler und wurde sogar angeklagt, aber Gott sei Dank nicht verurteilt. Er hatte Glück, weil das Gericht den "blinden Eifer" der Polizei erkannte und ihn freisprach. Den "blinden Eifer" der Ermittlern verstehe ich sogar angesichts der Schrecklichkeit der Tat - eine junge Mutter wurde erstochen, neben der Leiche kauerte ihr kleiner Sohn, ein verstörter Zweijähriger, der alles mitangesehen hatte und vergeblich versuchte, seine Mutter "aufzuwecken". Daß in so einem Fall die Gäule mit den Beteiligten durchgehen, ist kein Wunder - aber genau das darf nicht sein, auch nicht, wenn die Tat scheußlich ist, die Volksseele kocht und der Druck enorm ist.

Fallanalytiker entschlüsseln - wie hat der Täter gehandelt, warum hat er so gehandelt, und was sagt sein Handeln über ihn aus?
"Entmonsterung" nennt Horn es, wenn er und seine Kollegen zu dem Schluß kommen, daß der Täter kein Sonderling ist, eben kein Monster wie der berühmte "Hannibal Lector" aus "Das Schweigen der Lämmer", sondern ein Familienvater sein kann, ein Nachbar, ein Kollege, von dem seine Umgebung glaubt, er könne keiner Fliege etwas zuleide tun. Nach einem Mord, vor allem in idyllischen Kleinstädten, in denen jeder jeden kennt, glauben die Einheimischen meistens, der Täter könne "nicht von hier" sein (Fachausdruck: "No monsters here"). Das Entsetzen ist groß, wenn er dann doch aus dem Ort stammt. Häufig kommen auch echte Banalitäten ans Licht - ein Mann vergewaltigt eine Reihe von Frauen, aber von einem Opfer läßt er ab - warum? Antwort des geständigen Täters im Verhör: "Sie hat so sehr nach Knoblauch gerochen!" Äh ... ja. Das paßt leider nicht in das Drehbuch eines Krimis. Häufig sind Serienmörder auch keineswegs besonders intelligent oder gar genial, "Trophäenjäger" sind auch eher selten, manchmal sind sie viel unterwegs, manchmal auch nicht, einige waren schon immer gewalttätig und aggressiv, andere völlig unauffällig. Einige sind auch richtig dämlich und morden ungeplant, weil sie nicht mit dem heftigen Widerstand des Opfers gerechnet hatten!

Vor allem sind Fallanalytiker nicht die einsamen Wölfe, die man aus dem Fernsehen kennt - Genies, die an der Dummheit von Kollegen und Vorgesetzten verzweifeln und jeden Fall im Alleingang klären könnten. Horn wird nicht müde, die Wichtigkeit der Zusammenarbeit zu betonen.

== Der Mord an Mareike G. ==

Am tiefsten beeindruckt hat mich die Aufklärung eines Mordes, der als Vermißtenfall begann. In einer kleinen Stadt verschwindet eine junge Frau, Mareike G., 20 Jahre alt, von einem Tag auf den anderen spurlos. Mareike hat Arbeit, viele Freunde, keine Feinde, keinen Ärger mit Kollegen, sie ist lebenslustig und fröhlich - freiwilliges Verschwinden oder gar ein Selbstmord sind unwahrscheinlich. Aber es fehlt jede Spur von ihr. Was kann geschehen sein? Selbst dem erfahrenen Analytiker erschien dieser Fall zunächst hoffnungslos, und in der Tat waren die Voraussetzungen alles andere als ermutigend - keine Leiche, kein Tatort, kein Abschiedsbrief, in der Wohnung keine Blutlachen oder Kampfspuren, alles sah aus, als sei Mareike nur kurz weggegangen und würde jeden Augenblick wiederkommen. Und da sie so viele Kontakte hatte, wimmelte es in der Wohnung nur so von DNA-Spuren und Fingerabdrücken anderer Leute. Die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen, viele hätten wohl schon am Start aufgegeben. Und doch haben sich Horn und Co. an die Arbeit gemacht und den Fall gelöst - indem sie aus den mageren Informationen die richtigen Schlüsse gezogen haben.

1) Die Wohnungstür war abgeschlossen, Mareike hat sie immer nur zugezogen - also hat jemand anders die Tür zugemacht
2) Was tut jemand, der in seiner Wohnung überrascht und überfallen wird? Schreien natürlich, also muß der Täter das Opfer zum Schweigen
bringen - er vollzieht einen "Angriff gegen den Hals" - Mareike wurde erwürgt
3) Eine Decke, die sonst immer auf dem Sofa lag, war verschwunden - also hat der Mörder die Leiche darin eingewickelt
4) Der Mörder hat sehr planvoll gehandelt, kühl, überlegt und zielbewußt - wahrscheinlich ist er im Berufsleben genauso
5) Der Mörder ist jung genug, um zu Mareikes Freundeskreis zu gehören, aber alt genug für Planung und Taktik - wahrscheinlich um die 30
6) Er hat ein Auto und lebt wahrscheinlich allein und zurückgezogen - denn er konnte die Leiche unbemerkt wegschaffen
7) Ein einsamer Mann, das Motiv war wahrscheinlich verschmähte Liebe

Mit diesem Denkmodell haben Horn und seine Kollegen nach dem Täter gesucht und ihn gefunden. Sie haben Stefan B. vernommen - nicht auf die "harte Tour", wie man es im Fernsehen sieht, sondern mit der Verständnis-Taktik, Mitgefühl für die schwierige Lebenssituation usw. Unglaublich, aber wahr - nach dem Geständnis des Mörders zeigte sich, daß die Tat haargenau so abgelaufen war wie rekonstruiert. Ich hatte sogar ein wenig Mitleid mit dem Täter - allerdings nicht, weil er so ein einsamer armer Kerl war; er hat unglaublich kaltblütig gehandelt, nach dem Mord noch die Wohnungstür abgeschlossen und die bereits vergrabene Leiche sogar umquartiert - kein Wunder, daß die Richter nicht an eine Affekthandlung geglaubt haben! Aber: Wenn er den Mund gehalten hätte, wäre er zweifellos davongekommen; ein Profil reicht nicht für eine Anklage, geschweige denn für eine Verurteilung - und DNA hätte man an der verwesten Leiche, wenn sie entdeckt worden wäre, wohl nicht mehr gefunden. Auch den "Maskenmann" hätte man laufenlassen müssen, wenn er nicht gestanden hätte. Es ist also nicht nur der Fallanalyse zu verdanken, sondern auch der geschickten Vernehmungsstrategie der Polizei. Wenn sie nur geschwiegen hätten ... Ein nicht entdeckter Mörder, der dieses Buch liest, wird sich wohl dazu entschließen, im Fall seiner Verhaftung die Aussage zu verweigern. Mein erster Gedanke war allerdings, daß man das Morden besser ganz sein läßt - ich würde auf jeden Fall gefaßt werden. So denken offenbar viele - die Zahl der Tötungsdelikte in Deutschland geht nämlich seit vielen Jahren zurück, die hohe Aufklärungsquote scheint viele abzuschrecken. Und was würde wohl passieren, wenn ein Profiler einen Mord beginge? Würden seine Kollegen ihm auf die Spur kommen ...?

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