Elke Sauer: Ist das mein Kind?

"Ist das mein Kind?" ist einer der Erfahrungsberichte, die bei Bastei Lübbe erschienen sind; das Buch ist von 1995. Die Autorin Elke Sauer berichtet über ihren Sohn Michael - ein Wunschkind, wohlbehütet aufgewachsen, das trotzdem auf die schiefe Bahn gerät. Michael lügt und stiehlt schon im Kindergarten, fliegt aus zwei Lehren, desertiert von der Bundeswehr, konsumiert Drogen und landet mehrfach im Gefängnis. In der Schule versagt er auf ganzer Linie - außer im Sport, und seltsamerweise hat er auch eine gute Betragensnote. Er tritt nämlich - als Kind, Jugendlicher und Erwachsener - niemals aggressiv auf, vor allem ist er nicht gewalttätig - als die Polizei vor der Tür steht, weil sie Michael eines Raubüberfalls verdächtigt, weiß seine Mutter sofort, daß er es nicht gewesen sein kann. Kein Pöbler und / oder Schläger und trotzdem ein Problemkind - eine merkwürdige Mischung.

Michaels Eltern versuchen wirklich absolut alles, aber vergeblich. Michael macht, was er will, er lebt im Augenblick und tut immer gerade das, was ihm gerade einfällt, ohne einen Gedanken an die Folge zu verschwenden. Unglaublich, was sie alles auf sich nehmen. Der große Einsatz geht gelegentlich auf Kosten des jüngeren Bruders Andreas, der nie irgendwelchen Ärger macht. So hat Mutter Elke kein Problem damit, Andreas - und natürlich auch dessen Mitschüler - während einer Klassenarbeit zu stören. Und nachdem sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hat und Andreas sie zu Hause "wie ein Kleinkind umsorgt", schleppt sie sich zu Michael ins Gefängnis ...

Offenkundig ist auch der elterliche Mangel an Menschenkenntnis. Michael wohnt einige Zeit bei Freunden, einem angeblich berufstätigen Pärchen. Die Mutter schreibt: 'Das berufstätige Paar machte einen prima Eindruck. 'Da ist Michael doch mal mit richtig vernünftigen Menschen zusammen!'' Der Eindruck hat leider getäuscht: 'Der Bäcker wußte auch zu berichten, daß das junge Paar keineswegs einem Beruf nachging oder früh aufstand.' Dann hat Michael eine neue Freundin - Pia. Die Eltern sind wieder mal begeistert, bis sie erfahren, daß Pia mit einem Drogendealer liiert war: "Uns packte das Entsetzen. Was sie da sagte, paßte so gar nicht in das Bild, das wir uns von ihr gemacht hatten." Pias Vater ist nicht so naiv, sondern versucht Michaels Eltern zu erklären, daß Pia und Michael Drogen nehmen, die beiden bestreiten das jedoch. Michaels Eltern wissen nicht, wem sie glauben sollen: "Wenn das (die Drogensucht) tatsächlich zutraf, dann konnten die beiden ausgezeichnet lügen!" Also, daß ihr Sohn gut lügen kann, darf den Eltern zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht mehr neu sein! Natürlich hat Pias Vater recht, und als Michaels Mutter das kapiert, telefoniert sie mit ihm. Sie ist völlig entgeistert über seine Reaktion: Ihm ist längst alles klar! erkannte ich. (...) Woher hat dieser Vater alles gewußt? Woher hat er seine Informationen bezogen?" Ja, woher wohl? Der Mann hat einfach aus Erfahrung gelernt!

Ich habe mich oft gefragt: Wie kann man sich so viel vormachen?, wenn die Eltern immer und immer wieder daran glauben, ihr Sohn werde sich eines Tages bessern. Sie erwarten, daß Michael, wenn er erst einmal die Hauptschule besucht, "wie von selbst" bessere Leistungen erbringen wird. Wie kommen sie darauf? Wer nicht lesen, schreiben und rechnen kann, wird auf jeder Schulform scheitern. Sie erwarten, nachdem bereits alle Maßnahmen ins Leere gegangen sind, Wunder von einer Wohngruppe für Haftentlassene, und nur der jüngere Sohn begreift, daß Michael niemals in eine solche eintreten wird. Immer, wenn etwas schiefgegangen ist, setzen sie blindlings aufs nächste Pferd. Aber nun gut - wie schwer muß es auch sein, das eigene Kind aufzugeben?

Den Bruder fand ich beeindruckend - Elke Sauer hat wohl recht, wenn sie meint, der "Kleine" sei der "Größte" in der Familie gewesen. Er ist der einzige, der Michael klar und nüchtern sieht und als erster kapiert, daß sich dieser niemals ändern wird. Schrecklich, daß auch er für Michaels Verhalten angegriffen wurde - viele kannten den berüchtigten "Sauer" und stempelten gleich die ganze Familie als "asozial" ab.

Absolut desillusionierend ist auch, was Elke Sauer über sogenannte Fachleute zu berichten hat: "An der Schule wurden wiederholt Tests durchgeführt, die Michael regelmäßig eine durchschnittliche Intelligenz bescheinigten. Trotzdem war er nicht in der Lage, Worte in Buchstaben zu zerlegen." Und: "Der Fachmann konnte keine meßbaren, von der Norm abweichenden Werte feststellen. Michael war vollkommen gesund und auch nicht dumm." Oder: "Michael verfuege ueber eine durchschnittliche Auffassungsgabe, mit der er durchaus gute Leistungen an der Hauptschule erbringen könne. Warum letzteres nicht der Fall sei - auf diese unsere Frage antwortete der Psychologe nur unpräzise." Mit anderen Worten, die Familie ist hinterher genauso schlau wie vorher!

Irgendwann sieht Elke Sauer ein, daß Michael sich niemals ändern wird: "Es kam der Punkt, da sich die Diskussionen um Michael erschöpft hatten. Alles war längst gesagt worden. Die Beeinflussung des Unmöglichen hatte nicht stattgefunden." Von da an kann sie gelassener mit Michaels Lebensstil umgehen, sich von seinem kriminellen Alltag distanzieren und ihn trotzdem weiterhin lieben. Es wird sehr deutlich, daß die Liebe zum unmöglichen Sohn nie ins Wanken gerät.

Andreas Sauer versichert am Ende des Buches in einem Nachwort, alles habe sich wirklich so zugetragen - die Beteuerung hätte ich nicht gebraucht, das Buch ist absolut glaubwürdig - und fügt hinzu, vieles habe seine Mutter nicht erwähnt und seine Eltern wüßten gar nicht alles. Himmel!

Viele Jahre später habe ich Elke Sauers zweites Buch "Mein Jakobsweg" gelesen, nicht aus Interesse am Jakobsweg, sondern weil ich wissen wollte, wie es mit der Familie weitergegangen ist. Elke Sauer thematisiert darin u. a. ihre Krebserkrankung - ja, ihr ist wirklich nichts erspart geblieben. Andreas ist mittlerweile Professor für Mathematik, und Michael ... ist an einer Überdosis Drogen gestorben. Seine Mutter ist zu dem Schluß gekommen, daß er ADHS hatte. Darauf gekommen ist sie durch das Buch "ADHS kontrovers" von Gerhild Drüe, die Michaels Fall in ihrem Werk aufgreift. Vielleicht stimmt das, allerdings würde ich eine Ferndiagnose, noch dazu nach dem Tod des Betroffenen, mit Vorsicht genießen. Und eigentlich müßte Elke Sauer nach all ihren Erfahrungen die Weisheiten vermeintlicher Experten doch gründlich satt haben. Aber Gott sei Dank hat ihr die Diagnose ihr geholfen, sich von ihren unbegründeten Schuldgefühlen zu befreien - dann hatte sie in jedem Fall einen Wert.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Enid Blyton: Wirbel in Klasse 2 / Second Form at Malory Towers (Band 2)

Alexander Horn: Die Logik der Tat - Erkenntnisse eines Profilers