Thomas Darnstädt: Der Richter und sein Opfer

Rezension aus Deutschland vom 18. Juni 2016 (Amazon.de)

„Der Richter und sein Opfer – Wenn die Justiz sich irrt“: Es geht um falsche Urteile deutscher Gerichte. Darüber gibt es mittlerweile regalweise Literatur und zahlreiche Fernsehsendungen, und die Liste der Fälle ist erschreckend lang.

Darnstädt gräbt eine Unmenge von Fällen aus, in denen die Justiz versagt hat, und spricht mit einigen Vertretern dieses Systems. Ein interessantes Buch, aber wer den Glauben an den Rechtsstaat nicht verlieren will, sollte es lieber meiden. Otto Normalverbraucher läßt sich nicht träumen, wieviel da im argen liegt.

== Einige Fälle ==

Darnstädt beschäftigt sich mit einigen Fällen nur am Rande, mit anderen dagegen sehr ausführlich: Z. B. mit Manfred Genditzki, Hausmeister, wegen Mordes an einer alten Hausbewohnerin verurteilt und immer noch im Gefängnis, Monika de Montgazon, die zu Unrecht des Mordes an ihrem Vater verurteilt wurde, dem „Wetterfrosch“ Jörg Kachelmann, von seiner Ex-Freundin der Vergewaltigung beschuldigt, aber freigesprochen, den sogenannten Wormser Mißbrauchsprozessen, Ralf Witte, der zu Unrecht wegen Vergewaltigung an einer Minderjährigen verurteilt wurde, den Angehörigen des Landwirts Rudolf Rupp, die wegen Mordes an ihrem Vater bzw. Ehemann verurteilt wurden, Harry Wörz, verurteilt wegen versuchten Totschlags an seiner Ex-Frau Andrea, Benedikt „Bence“ Toth, verurteilt wegen Mordes an seiner Tante und ebenfalls noch in Haft). Alle aufzuzählen, würde den Rahmen einer Rezension sprengen.

== Was ist in diesen Fällen schiefgegangen? ==

Manfred Genditzki wurde wegen Mordes an einer alten Frau verurteilt – es gab nicht nur keine Beweise gegen ihn, es steht nicht einmal fest, daß das Opfer überhaupt ermordet wurde (die gebrechliche alte Dame ist in ihrer Badewanne ertrunken, es kann ein Unfall gewesen sein). Die Urteilsbegründung und die Vermutungen über den vermeintlichen Tathergang sind freie Phantasie des Gerichts. Haarsträubend.

De Montgazon sollte den Brand gelegt haben, bei dem ihr Vater ums Leben kam – das Gericht glaubte den Gutachtern, die dieser Überzeugung waren. Neue Gutachter kamen zu dem Ergebnis, daß es sich nicht um Brandstiftung gehandelt hatte. Das ist ein schwieriger Fall – woher soll ein Richter, der ja kein Brand-Experte ist, wissen, welcher Gutachter recht hat? Allerdings hätte der Richter sehen müssen, daß das vermeintliche Motiv (Habgier) hier unsinnig war, denn der Vater der Angeklagten lag sowieso im Sterben.

Die geistig minderbemittelten Rupps sollen ihren Ehemann bzw. Vater ermordet, zerstückelt und an die Hofhunde verfüttert haben. Alle gestanden und wanderten ins Gefängnis, bis die Leiche im wahrsten Sinne des Wortes auftauchte – Rupps Auto wurde aus dem Fluß gefischt, die Leiche saß am Steuer und war so intakt, wie es eine Wasserleiche sein kann. Dieser Fall hat mir auch deutlich gezeigt, daß ich selbst nicht das Zeug zur Juristin hätte (was ich allerdings schon lange vorher wußte). Als ich nämlich las, daß die Polizei im Keller der Rupps einen halbverhungerten Schäferhund gefunden hat, war mein anfängliches Mitleid mit der Bagage wie weggeblasen – wer so mit einem Tier umgeht, kann meinetwegen im Knast verfaulen. Aber ich bin ja auch keine Richterin – ein Richter muß Vernunft walten lassen, auch wenn die Volksseele kocht.

Harry Wörz hatte das Pech, daß sowohl die Ermittler als auch ein dringend Tatverdächtiger Kollegen seiner Ex-Frau (einer Polizistin) waren – wie kann so etwas angehen? Sollten nicht Außenstehende die Ermittlungen führen? Das Opfer lebt noch, kann aber nichts mehr sagen – die Drosselung mit einem Schal hat zu einem irreversiblen Hirnschaden geführt. Andrea Z. ist heute ein Pflegefall. Der einzige Zeuge, ihr damals 2jähriger Sohn, hat das Geschehen wahrscheinlich mitangesehen, war aber natürlich zu klein, um einen brauchbaren Zeugen abzugeben.

In den Wormser Mißbrauchsprozessen setzte die harmlose Bemerkung eines kleinen Jungen, falsch interpretiert von übereifrigen Kinderschützern, eine wahre Lawine in Gang. Und die Fürniss-Methode, bei der Kindern Suggestivfragen gestellt werden, ist natürlich eine Katastrophe. Wie kann es angehen, daß derart unprofessionell vorgegangen wird?

Ralf Witte saß fünfeinhalb Jahre (Urteil: 12 Jahre und 8 Monate) wegen Vergewaltigung einer 15jährigen, weil das Gericht die Horrorgeschichten des Mädchens glaubten. Die Borderline-Erkrankung der Klägerin wurde erkannt, aber nicht das Ausmaß und die Folgen – nämlich ein krankhaftes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, u. a. durch falsche Beschuldigungen. Auch der Vater der Klägerin wanderte wegen angeblichen Mißbrauchs hinter Gitter.

Benedikt Toth soll seine reiche Erbtante aus Habgier erschlagen haben. Wenn man sich fragt, wer die Millionärin umgebracht hat – ein großer Unbekannter oder ein Studienabbrecher mit ungewisser Zukunft, der ein Millionenerbe retten wollte – , halte ich letzteres für wahrscheinlich. Aber die tödlichen Hiebe wurden mit rechts ausgeführt, und Toth ist Linkshänder. Denkt jemand im Blutrausch daran, absichtlich mit der falschen Hand zuzuschlagen, damit er nicht überführt wird? Und KANN er mit der falschen Hand überhaupt so fest zuschlagen? Unwahrscheinlich.

== Wie kommt es zu Justizirrtümern? ==

Fehlerquellen sind u. a.:

- Falschbeschuldigung (häufig aus Rache, dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, der Suche nach bestimmten Vorteilen, oder aufgrund psychischer Krankheiten)
- lügende Zeugen oder, sehr viel häufiger, irrende Zeugen (Darnstädt nennt einen Fall, in dem sich ALLE Zeugen geirrt haben)
- ungenaue Dokumentation von Zeugenaussagen (vor allem, wenn es keine Tonband- und / oder Videoaufnahmen von Verhören und Prozessen)
- falsche Geständnisse (viel häufiger, als man glaubt, vor allem bei erheblichem Druck in Verhören und / oder psychisch labilen Verdächtigen)
- mangelhafte Gutachten (vor allem bei psychologischen Gutachten, wenn es etwa um die Frage der Glaubwürdigkeit geht, aber auch bei vermeintlich harten Naturwissenschaften, wie z. B. Brandgutachten)
- Vorverurteilung (besonders häufig bei Vergewaltigung und sexuellem Mißbrauch an Kindern)
- der Richter glaubt dem Falschen (wenn Aussage gegen Aussage steht und er sich von Schauspielkünsten blenden läßt oder inkompetenten Gutachtern glaubt) - die „freie Beweiswürdigung“, bei denen mit manchen Richtern die Phantasie durchgeht
- die zahlreichen Dinge, die man nicht nachweisen kann, weil sie eben nur „im Kopf“ vorhanden sind – vielleicht kann man A nachweisen, daß er B umgebracht hat, aber wer will genau feststellen, was er sich dabei gedacht hat?!
und vieles mehr …

== Der Umgang mit Justizopfern ==

Das Ärgste ist vielleicht die Art, wie mit Justizopfern umgegangen wird, wenn ein Irrtum ans Licht gekommen ist. Die Haftzeit bleibt an ihnen kleben, um jeden Cent Entschädigung müssen sie kämpfen. 25 Euro pro Tag stehen einem Menschen zu, der unschuldig im Gefängnis saß – lächerlich wenig, aber sogar eine Erhöhung – bis zum Fall Monika de Montgazon waren es nur 11 Euro. Aus den USA und den Niederlanden sind Fälle bekannt, in denen Justizopfer Entschädigungen in Millionenhöhe erhalten haben – undenkbar in Deutschland.

== Die "Verpackung" ==

Die Gliederung ist allerdings gewöhnungsbedürftig – Darnstädt arbeitet nicht einen Fall nach dem anderen ab, sondern „zerlegt“ die Fälle – Genditzki steht am Anfang, in der Mitte und am Schluß, die anderen Fälle und die Interviews dazwischen. Ich glaube, der Autor hat diese „Zerfaserung“ aus diversen Fernsehsendungen zu dem Thema übernommen – mir gefällt diese Gliederung nicht. Vielleicht hatte er seine Gründe dafür, es liest sich aber, als habe er soviele Fakten und Informationen gesammelt wie nur irgend möglich – und das Sammelsurium dann einfach nicht geordnet.

Wirklich schlecht ist der Stil – zum einen wegen der Kämpfe, die der Autor, immerhin renommierter Journalist, mit seiner Muttersprache führt. Darnstädt schreibt:

- „von der Stelle weg“ statt „vom Fleck weg“ - „Man zieht sich auf die Einsicht zurück“ statt „Man zieht sich auf den Standpunkt zurück“ oder „Man kommt zu der Einsicht“
- „Sie gab das Geld mit offenen Händen aus“ statt „Sie gab das Geld mit vollen Geld aus“
- „seltene Ausnahme“ - sind Ausnahmen nicht immer selten?
- „den Hunden verfüttert“ statt „an die Hunde verfüttert“

Außerdem kann sich der Autor nicht für eine Stilebene entscheiden, gelegentlich wird er flapsig und schreibt „Jenny“ statt „Jennifer“, „ihr Paps“ statt „ihr Vater“ oder „die kleine Spinnerin“, „Ist der Frosch ein Schwein?“ (gemeint ist „Wetterfrosch“ Kachelmann), „so ähnlich wie versaut“ (wiederholtes Nachplappern der Worte von Monika de Montgazon, die bei aller Sympathie nicht eben eloquent ist), dann wieder greift er zu Pathos und Schwulst, wenn er etwa von einer „Kriegsmaschinerie der Kinderschützer“ spricht.

Ich habe erwogen, 2 Sterne abzuziehen, einen für die schlechte Gliederung und einen für den schlechten Stil – aber das würde dem Inhalt nicht gerecht werden. Dreieinhalb Sterne!

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