Astrid Lindgren: Madita

Mein absolutes Lieblingsbuch von Astrid Lindgren.

Hauptfigur ist Margareta Engström, genannt Madita (Original: Madicken), und das reale Vorbild war Astrid Lindgrens beste Freundin Anne-Marie Ingeström, die Tochter des Bankdirektors von Vimmerby. Also keine Bauerntochter, sondern ein Mädchen aus reichem Haus. Madita ist 7 Jahre alt und lebt mit Vater Jonas (Zeitungsredakteur), Mutter Kajsa (Hausfrau), ihrer kleinen Schwester Lisabet und dem Hausmädchen Alva auf Birkenlund (Original: Junibacken, d. h. "der Junihügel") in einer kleinen Stadt, höchstwahrscheinlich Vimmerby. Die Handlung spielt während des Ersten Weltkriegs, der im Original mehrfach erwähnt wird, was in der deutschen Übersetzung jedoch gestrichen wurde. Andere wichtige Figuren sind die Nachbarn - Onkel Nilsson, Tante Nilsson und deren halbwüchsiger Sohn Abbe -, der Schornsteinfeger und die "Bürgermeisterin" (gemeint ist natürlich die Frau des Bürgermeisters) und der arme verrückte Lindkvist.

Madita ist ein lebhaftes Mädchen, das furchtbar gern brav sein will, was jedoch nicht immer gelingt. Immer wieder geht ihr Temperament mit ihr durch, und dann handelt sie, bevor sie nachdenkt. Aber sie hat ein gutes Herz, und sehr oft ist sie sogar zu nett - das Unglück anderer nimmt sie immer sehr schwer. Ganz im Gegensatz zu der angeblich so braven kleinen Schwester Lisabet, die durchaus biestig sein kann - sie zieht die Katze am Schwanz, beißt Maditas Schokoladenfigur den Kopf ab und kann sich nicht entschuldigen, wenn sie sich häßlich benommen hat. Und damit sind wir bei dem, was das Buch so besonders macht.

Ich habe lange gegrübelt, warum ich diese Geschichte so sehr liebe. Ich denke, es liegt an der Mühe, die die Autorin sich mit den Personen gemacht hat. Die Charaktere leben förmlich, keiner ist nur gut, keiner nur schlecht. Mutter Kajsa hat Launen, ist aber trotzdem eine liebevolle Mutter - so verbietet sie der Wäscherin Linus-Ida, den Kindern mit der Hölle zu drohen. Linus-Ida ist tief religiös und ängstigt die Kinder manchmal mit Schauergeschichten, ist aber meistens gut zu ihnen - zu ihr flüchtet Madita, nachdem sie glaubt, Lisabet als Sklavin verkauft zu haben. Nachbar Nilsson ist ein Trinker, seine Frau schlampig und faul - und trotzdem hat Madita beide gern, sie werden nicht als Asoziale verunglimpft. Beide lieben ihren Sohn, auch wenn sie keine idealen Eltern sind. Abbe ist vielleicht der eigentliche Held der Geschichte, er wächst in schwierigen Verhältnissen auf und bekommt keinen Knacks - "Resilienz" nennen Psychologen so etwas heute. Der verrückte Lindkvist ist gefährlich, aber trotzdem zu bedauern. Die Bürgermeisterin ist ein Ekel, aber eine gute Organisatorin, die viel für die Armen tut (natürlich gibt sie sich persönlich nur mit feinen Leuten ab). Maditas Vater Jonas hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, aber seine Aktionen gehen nicht immer gut aus (dazu gleich mehr). Es ist dieser völlige Verzicht auf Schwarz und Weiß, der das Buch lesenswert und die Charaktere liebenswert macht. Und natürlich die Ablehnung schwarzer Pädagogik - so sind Maditas Eltern und Hausmädchen Alva gegen körperliche Züchtigung, und als Maditas Mitschülerin Mia (die sie nicht einmal mag) vom Schulleiter geschlagen wird, ist Madita die einzige, die lautstark protestiert.

Ein kleiner Stolperstein war für mich immer die Geschichte von Alva auf dem Ball. Maditas Eltern mit ihrer sozialen Ader haben die Superidee, das Hausmädchen mit auf einen Ball zu nehmen. Sie kommen sich sehr gerecht und fortschrittlich vor, doch der Abend wird zum Alptraum für Alva. Die Bürgermeisterin, die die gesellschaftlichen Normen verletzt sieht (und auch sonst nicht gut auf Alva zu sprechen ist), weist alle Herren an, den unpassenden Gast nicht zum Tanzen aufzufordern. Alva, bis dahin durchaus selbstbewußt, erlebt eine furchtbare Demütigung: "Sie weint nicht etwa, weil sie nicht tanzen darf. (...) Jetzt sieht sie aus, als schäme sie sich, Alva zu sein." Das ist schlimm. Mich hat die Geschichte immer aufgeregt, weil die Mitschuld von Maditas ELtern m. E. nicht gut genug herauskommt - warum setzen sie Alva so einer Situation aus? Und die Bürgermeisterin? Wie soll sie reagieren, wenn Gäste so sehr eklatant gegen Normen verstoßen? Alva wird hier von Maditas Eltern regelrecht mißbraucht, als Demonstrationsobjekt, um zu allen zu beweisen, wie ungeheuer sozial sie sind. Aber, wie ein Rezensent auf Amazon.de meinte, vielleicht war genau das die Absicht der Autorin - zu zeigen, wie sehr gutgemeinte Aktionen nach hinten losgehen können? Das kann natürlich sein. Wie auch immer - "Madita" bleibt mein Lieblingsbuch von Astrid Lindgren!

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