Erica Fischer: Aimée und Jaguar

Rezension aus Deutschland vom 9. November 2010 (Amazon.de).

Wer kennt sie nicht, die Liebesgeschichte von Elisabeth Wust alias "Lilly" oder "Aimee" und Felice Schragenheim, genannt "Jaguar"? Elisabeth Wust hat sie in den 1990er Jahren der Schriftstellerin Erica Fischer erzählt und die Geschichte als Buch veröffentlichen lassen.

Die Österreicherin Erica Fischer, Jahrgang 1943, ist Autorin, Übersetzerin und Journalistin und lebt in Wien. Ihr Werk "Aimee und Jaguar" erschien erstmals 1994, ich selbst habe die Taschenbuchausgabe von 1998 (erschienen bei dtv), die ich allerdings gerade nicht zur Hand habe - die Rezension schreibe ich daher aus dem Gedächtnis. Tragische Liebesgeschichten faszinieren, ebenso wie Liebe zwischen sehr gegensätzlichen Menschen, und in diesem Fall könnten die Gegensätze kaum größer sein. Elisabeth Wust (1913 - 2006), eine etwas biedere Hausfrau, Mutter von vier Söhnen und dafür mit dem Mutterkreuz dekoriert, mit einem Hitlerbild an der Wand und der Überzeugung, Juden am Geruch erkennen zu können (oder ist das aus dem Film? Ich erinnere mich nicht genau) ... ihrem Mann treu war sie allerdings nicht, auch nicht vor der Beziehung mit Felice. Sie ist ab und zu fremdgegangen, was ihr Mann, ebenfalls nicht monogam, relativ gelassen akzeptiert hat. Angeblich stammte sogar einer der vier Söhne aus einem Seitensprung.

Und dann tritt Felice (1922 - wohl Anfang 1945) in Lillys Leben, eine Freundin der Hausgehilfin Inge, einem jungen Mädchen, das sein Pflichtjahr bei Lilly absolviert. Felice ist elegant und weltläufig, intellektuell, schreibt Gedichte - genau das Gegenteil der eher kleinbürgerlichen Lilly. Die Hausfrau ist fasziniert von der jungen Frau, und es entwickelt sich eine Beziehung zwischen ihnen. Aber warum verschwindet Felice immer wieder, meldet sich nicht, ist geheimniskrämerisch? Lilly ist eifersüchtig und macht Szenen, bis Felice "beichtet", daß sie Jüdin und somit in Lebensgefahr ist. Kein Problem für Lilly - sie deckt Felice, und die beiden sind glücklich, soweit es eben im Bombenhagel und unter ständiger Angst möglich ist. Die Zweisamkeit findet ein jähes Ende, als die Gestapo vor der Tür steht und Felice mitnimmt. Felice stirbt im KZ oder auf einem der berüchtigten "Todesmärsche" (Zeit und Ort sind nicht genau bekannt), und Lilly bricht zusammen und trauert für den Rest ihres Lebens. Die Liebesgeschichte bleibt ihr Geheimnis - bis sie Erica Fischer alles erzählt.

Erica Fischers Werk besteht aus Lillys Erzählungen über die große Liebe zwischen ihr und Felice, es enthält sehr viele private Fotos, faksimilierte Briefe, sogar Schulzeugnisse, was das Buch sehr authentisch wirken läßt. Lilly ist sehr offen, sie schildert außerordentlich intime Dinge wie z. B. ihre erste Nacht mit Felice. Es las sich sehr leicht, ich fand es spannend und habe mit den beiden mitgelitten. Auch Lillys weiteres Leben nach dem Verlust von Felice verläuft tragisch. Sie läßt sich von ihrem Mann scheiden, heiratet wieder, kommt aber vom Regen in die Traufe, denn der neue Mann ist gewalttätig, und auch diese Ehe scheitert. Und immer ist da die Erinnerung an die heißgeliebte, schmerzlich vermißte Felice...

Ich war wie soviele andere gerührt von der liebenswerten kleinen Oma Lilly Wust, die im Fernsehen aufgetreten ist, und fand sie sehr sympathisch. Und es ist ja auch die Geschichte einer Läuterung: Eine überzeugte Nazi-Anhängerin wandelt sich zur Widerstandskämpferin - so etwas zementiert den Glauben an das Gute im Menschen, und solche Fälle hat es zweifellos gegeben. An sich mittelmäßige Menschen, die in extremen Situationen über sich hinauswachsen - auch so etwas hat mich immer fasziniert. Aber ebenso wird es Leute gegeben haben, denen erst nach dem Krieg eingefallen ist, daß sie Juden unterstützt hätten und die den eigenen Lebenslauf heroisiert haben. Ist Elisabeth Wust auch eine von denen?

Wie gesagt: Dieses Buch ist 1994 erstmals erschienen, aber ich kenne nur die 2. Auflage (1998), die sich von der ersten geringfügig unterscheiden soll - die Autorin hat die Bemerkung eingeflochten, daß Felices einstige Freundinnen, Jüdinnen, die den Holocaust überlebt haben, könnten keinen Frieden schließen mit Elisabeth Wust, der Ehefrau eines Wehrmachtsoldaten und Mutterkreuzträgerin. Ich habe diese Textstelle gelesen, ohne mir viel dabei zu denken. Aber genau das ist der Knackpunkt - denn besagte Freundinnen, vor allem eine namens Elenai Predski-Kramer, erzählen eine andere Geschichte als Lilly Wust...

Es wäre ja nicht das erste Mal, daß es um ein Buch einen riesigen Hype gibt - und hinterher kritische Stimmen laut werden. Man denke an "Moody", den Ex-Mann von Betty Mahmoody, der sich nach dem Erfolg von "Nicht ohne meine Tochter" zu Wort gemeldet und gegen seine Darstellung als Bösewicht protestiert hat. Ein gutes Beispiel ist auch der "Erfahrungsbericht" eines gewissen "Lukas", der in einem Buch mit dem Titel "Vier Jahre Hölle und zurück" seine angeblichen Erlebnisse bei den Satanisten schildert. Mittlerweile finden sich sowohl bei Amazon.de als auch hier bei Ciao kritische Rezensionen zu dem Buch, die auf die weichen Stellen in "Lukas'" Bericht hinweisen - alles ausgezeichnete Betrachtungen, die nur den einen Nachteil haben, daß sie in den meisten Fällen nahezu gleichlautend sind mit einem kritischen Text auf einer Schweizer Internetseite. Die vermeintlich scharfsichtigen Rezensenten geben die treffenden Argumente eines Herrn namens Georg Otto Schmid wörtlich wieder und verschweigen diskret, daß es nicht ihre eigenen Gedanken sind.

Mit fremden Federn schmücken möchte ich mich nicht. Also schreibe ich offen: Nein, ich habe die "Knackpunkte" in Lillys Geschichte nicht von selbst bemerkt. Ich bin nur über zwei Stellen gestolpert: Erstens über die Freimütigkeit, mit der Lilly ihre sexuellen Erlebnisse mit Felice schildert. Und zweitens über Lillys angeblichen "Besuch" im KZ Theresienstadt - mit dem Vorhaben, Felice warme Sachen zu bringen! Konnten Freunde von KZ-Insassen einfach mal eben zu Besuch vorbeikommen? Wohl eher nicht, und diese Stelle fand ich verrückt und makaber. Aber den Rest habe ich geschluckt, und sowohl das Buch als auch der Film haben mich sehr bewegt. Dann aber habe ich vor kurzem den Wikipedia-Artikel über Elisabeth Wust gelesen, und darin hieß es, daß es eine andere Version der vermeintlichen Liebesgeschichte gebe, erzählt von der Holocaust-Überlebenden Elenai Predski-Kramer (eine der oben erwähnten Freundinnen von Felice, die keinen Frieden mit Lilly schließen können). Predski-Kramer glaubt nämlich, daß Lilly Felice SELBST an die Gestapo verraten habe ...

Eine gravierende Beschuldigung und schwer vorstellbar! Denn war Felice nicht Lillys große Liebe, deren Verlust sie nie überwunden hat? Zu diesem Thema gibt es einen interessanten Artikel einer Autorin namens Katharina Sperber (zu finden hier: [...] Darin heißt es, daß Felice eben auf Lilly angewiesen war - Lilly war ihr Unterschlupf, und sie konnte nicht einfach gehen, weil sie keine andere Zuflucht hatte. Das klingt überzeugend, schließt aber wirkliche Liebe noch nicht unbedingt aus.

Und die eigene Geliebte dem sicheren Tod ausliefern - wieso hätte Lilly Wust das tun sollen? Elenai Predski-Kramer glaubt, daß die kleinbürgerliche Hausfrau Elisabeth Wust wußte, daß die weltläufige Felice sie nach dem Krieg verlassen hätte und sie Felice lieber tot sehen wollte, als sie gehen zu lassen. Also eher Besitzanspruch als Liebe.

Das ist natürlich alles Spekulation und Hörensagen. Belegt ist aber: Im Juli 1944 hat Felice ihr Testament gemacht und alles, was sie noch besaß, Lilly Wust hinterlassen. Im August 1944, also nur einen Monat später, stand die Gestapo vor der Tür und hat Felice mitgenommen: "Am 28. 7. 1944 erhält Lilly eine Schenkungsurkunde von Felice, am 21. 8. 1944 wird Felice Schragenheim deportiert. In Krimis kommt an dieser Stelle immer eine Lebensversicherung vor, anschließend der Tote." ([...]) Aua - DAS klingt in der Tat verdächtig - und die angebliche lebenslange Trauer kann auch das Schuldgefühl gewesen sein. Restlos überzeugt bin ich allerdings auch von der "neuen" Version nicht - und nun blindlings ins Gegenteil zu verfallen, scheint mir ebenso naiv, wie Lilly Wusts Geschichte einfach so zu schlucken.

Es stellt sich eben immer die Frage, wem man mehr glaubt, in diesem Fall Lilly Wust oder Elenai Predski-Kramer? Das kann ich unmöglich entscheiden, denn ich kenne keine der beiden persönlich. Wer weiß, was Frau Predski-Kramers Motive sind - vielleicht war sie einfach eifersüchtig auf die Beziehung zwischen Lilly und Felice? Und auch ihre Argumentation enthält Widersprüche: Einerseits glaubt sie nicht, daß Lillys "Besuch" im KZ Theresienstadt jemals stattgefunden hat - andererseits behauptet sie, Lilly habe Felice mit ihrem Besuch in Gefahr gebracht, weil KZ-Gefangene, die von Freunden oder Verwandten ausfindig gemacht wurden, meistens gleich umgebracht worden seien. Wie kann man jemanden durch einen Besuch gefährden, der gar nicht stattgefunden hat...?

Hat Lilly nicht auch nach Felices Verlust noch mehrere Jüdinnen bei sich versteckt? Lilly Wust wurde von der Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel "Gerechte unter den Völkern" ausgezeichnet. Bekommt man eine solche Ehrung einfach nachgeschmissen? Nimmt die Organisation nicht den Lebenslauf der Kandidaten gründlich unter die Lupe? Andererseits muß selbst eine hohe Auszeichnung nicht viel heißen - man denke nur daran, wie der Friedensnobelpreis gelegentlich verschleudert wurde...

Möglich ist natürlich auch, daß die Übergänge zwischen Liebe, Besitzgier und Abhängigkeit vielleicht fließend sind und daß von allem etwas dabei war. Ich kann hier nicht zu einem abschließenden Urteil kommen, weshalb das Buch für mich im Grunde unbewertbar ist. Ein Bericht ohne Sternvergabe wäre eine gute Lösung (nicht nur hier), oder vielleicht zweieinhalb Sterne, weil das genau die Mitte wäre. Da beides nicht geht, sage ich "Im Zweifel für die Angeklagte" und runde die zweieinhalb Sterne auf.

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