Emmy von Rhoden: Der Trotzkopf (Band 1)

Der "Evergreen" unter den Mädchenbüchern von Emmy von Rhoden (Pseudonym von Emilie Friedrich-Friedrich, geb. Kühne, 1829 - 1885), der immer wieder aufgelegt wird, erschien erstmals 1885. Der Autorin, die im April 1885 starb, war es also nicht vergönnt, ihren Riesenerfolg mitzuerleben. Ihre eigene Tochter Else besuchte ein Internat in Eisenach, und so kam ihr die Idee, ein Buch über den Alltag in einem Mädchenpensionat zu schreiben.
Sie ist recht nah an der Realität geblieben, einige wichtige Figuren haben reale Vorbilder:

Ilse: Else, Tochter der Autorin
Nellie Grey: Nellie Gladstone, Elses beste Freundin
Fräulein Raimar: Auguste Möder
Fräulein Güssow: Emma Schwartz
Miss Lead: Miss Wood
Ort: Eisenach

Hauptfigur ist Ilse Macket, zu Beginn der Handlung 15 Jahre alt. Ilse ist die Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers und, da ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt gestorben ist, wild aufgewachsen. Vater und Dienstboten vergöttern sie, sie hat keinen Kontakt zu Gleichaltrigen und macht, was sie will. Ilses lustiges Leben hat ein Ende, als ihr Vater wieder heiratet. Stiefmutter Anne will aus dem Mädchen eine Dame machen, beißt sich jedoch die Zähne an ihr aus. Ilse hat nicht nur keine Manieren, auch ihre Schulbildung ist vernachlässigt, nachdem alle Gouvernanten das Handtuch geworfen haben. Einen Brief schreiben zu können und das Einmaleins zu beherrschen, reicht definitiv nicht, erklärt der befreundete Pfarrer Ilses Vater, und dieser beginnt, sich Sorgen um Ilses Zukunft zu machen. Gemeint ist die Befürchtung, die Tochter könnte unverheiratet bleiben - zur damaligen Zeit der größte anzunehmende Unfall für eine Frau; warum, dazu komme ich gleich. Ilse muß etwas lernen, erstens sich zu benehmen und unterzuordnen, zweitens einen Haushalt zu führen, und drittens braucht sie noch ein paar Brocken Bildung, gerade soviel, daß ein Ehemann sich nicht für sie schämen muß und sich nicht mit ihr langweilt.

Ilse kommt in ein Pensionat, weit weg von zu Hause. Von Anfang an liegt sie mit der Leiterin, Fräulein Raimar, im Clinch, freundet sich jedoch mit ihrer Zimmergenossin Nellie und der jungen Lehrerin Fräulein Güssow an. Nach anfänglicher Widersetzlichkeit wird Ilse zurechtgebogen. Am schwersten fällt es ihr, sich zum erstenmal zu entschuldigen - nachdem Fräulein Raimar sie in der Handarbeitsstunde bloßgestellt hat, reagiert sie mit einem Wutanfall und wirft ihr Strickzeug an die Wand. Fräulein Güssow erzählt ihr zur Warnung die Geschichte des Mädchens Luzie, das seinen Verlobten vergrault hat und fortan als Lehrerin arbeiten muß - jawohl, das kann auch reiche Mädchen treffen, denn Luzies Großmutter hat ihr Vermögen verloren. Der Gedanke, ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen, erschreckt Ilse so, daß sie sich überwindet und Fräulein Raimar um Verzeihung bittet. Ilse lernt stricken, nähen, Sparsamkeit, Fürsorge für ein Kind (sie kümmert sich aufopfernd um die kleine Mitschülerin Lilli und verzichtet sogar auf einen Ball, um das kranke Kind zu pflegen) und den Tod eines Kindes zu verkraften (in einer Zeit hoher Kindersterblichkeit mußten Eltern darauf gefaßt sein). Die Wandlung ist vollzogen, spätere Streiche (eine nächtliche Kletterpartie in den Apfelbaum, bei der das ganze Haus in Aufruhr gerät) sind kein Drama mehr. Auf der Rückreise begegnet Ilse Leo und verlobt sich wenig später mit ihm. Nellie heiratet den Deutschlehrer Dr. Althoff, und Fräulein Güssow (die die Luzie aus der Erzählung ist) trifft ihren Verlobten (den Bruder von Ilses Stiefmutter!) wieder und heiratet ihn. Das schreckliche Schicksal, als Lehrerin arbeiten zu müssen, ist somit abgewendet.

Warum ist dieses Buch, trotz all der überholten Ansichten, immer noch populär? Weil es um Dinge geht, die sich nie ändern. Eine 15jährige, die keine Lust zum Lernen hat und gegen die neue Frau ihres Vaters bockt - das könnte auch von heute sein. Patchworkfamilien sind keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, auch wenn Scheidungen im 19. Jahrhundert nicht üblich waren, wird es solche Konstellationen wegen der hohen Anzahl von Frauen, die im Kindbett starben, häufig gegeben haben. Ilses Vater heiratet erst spät wieder, vielleicht auch nur, weil er keinen Sohn und Erben hat. Und selbstverständlich braucht ein junges Mädchen Bildung und Kontakt zu Gleichaltrigen.

Man könnte dieses Buch sehr spitzfindig beurteilen; zum Erziehungsratgeber taugt es heute sicher nicht mehr. Es in Grund und Boden zu verdammen, finde ich jedoch ungerecht. Die Autorin war Baujahr 1829, sie mit heutigen Maßstäben zu messen, ist nicht fair. Man darf nicht vergessen, was für eine schwierige Aufgabe die Autorin sich gestellt hatte - die Heldin muß rebellieren, ohne dabei unsympathisch zu werden; die Leserin muß sie zumindest ein bißchen verstehen können. Und wer aufmerksam liest, wird feststellen, daß Ilse sich nicht ganz verbiegt - sie behält ihr Temperament, sie lernt nur, es zu zügeln. Sie wird gemocht, nicht wegen ihrer Tugenden, sondern wegen ihrer Ehrlichkeit und Natürlichkeit. Zwischen den Zeilen findet sich auch Kritik an den Erziehungsmaßnahmen, so denkt auch Fräulein Güssow, daß Fräulein Raimar Ilse nicht hätte blamieren sollen - und der Vater erklärt seiner Frau, ihm habe sein wildes Kind besser gefallen.

Ein interessanter Aspekt ist, daß eigentlich nur Frauen ein Problem mit Ilses Verhalten haben. Der Vater nimmt keinen Anstoß, die Stiefmutter hingegen schon. Auch der Besucher, Herr von Schäffer, amüsiert sich über Ilse, nur seine Frau findet das Mädchen schrecklich (den Pfarrer, der den Vorschlag mit dem Internat macht, können wir vergessen, die Autorin plaziert ihn in der Geschichte, damit die Stiefmutter nicht zu unsympathisch wird - die Leserin könnte auf den Gedanken kommen, daß sie einfach nur eifersüchtig auf ihre Stieftochter ist). Die Pensionatsleiterin und die Englischlehrerin halten Ilse für einen hoffnungsvollen Fall, der Deutschlehrer und der Französischlehrer sind dagegen begeistert von ihr. Ob das der Autorin bewußt war?

Warum die Heirat so ein Riesenthema ist, begreift man, wenn man sich mit dem zeitlichen Hintergrund befaßt. Das Buch erschien 1885 und spielt wohl ein paar Jahre zuvor. Was war geschehen? Richtig - der Deutsch-Französische Krieg. Was bringt ein Krieg mit sich? Genau - daß Männer Mangelware sind. Wahrscheinlich waren viele Männer gefallen oder als körperliche und seelische Wracks zurückgekehrt, die nicht mehr für eine Familie sorgen konnten. So werden viele Frauen leer ausgegangen sein, sie mußten entweder arbeiten oder ihrer Familie auf der Tasche liegen.

Warum Berufstätigkeit ein so schrecklicher Gedanke war, versteht man vielleicht besser, wenn man sich fragt: Was für Berufe für Frauen gab es damals denn eigentlich? Lehrerin, Fabrikarbeiterin, Hausangestellte, Wäscherin und dergleichen - schwere schmutzige Arbeit, schlechte Bezahlung, geringes Ansehen, schlimmstenfalls das Abrutschen in die Prostitution. Studium, Karriere, gute Bezahlung, Ansehen - all das war nicht vorgesehen. Für eine unverheiratete Tochter aus gutem Hause hingegen bedeutete die Nichtheirat, zu Hause zu versauern - zunächst bei den Eltern und nach deren Tod wahrscheinlich bei anderen Angehörigen als mitleidig geduldete arme Verwandte. So würde es Ilse ergehen. Nicht einmal auf ein reiches Erbe kann sie hoffen, denn ihre Stiefmutter bringt einen Stammhalter zur Welt (und übertrifft damit ihre Vorgängerin, die "nur" eine Tochter zustandegebracht hat), und wir dürfen sicher annehmen, daß ein Sohn den Vorrang hatte. Dann doch lieber Hausfrau und Mutter - als solche war sie geachtet und konnte ihrem Leben einen Sinn geben.

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