Else Ury: Nesthäkchens erstes Schuljahr (Band 2)

Band 2 der Nesthäkchen-Reihe.

Annemarie wird eingeschult, sie kommt in die erste Klasse, die nach damaliger Zählung die zehnte ist. Das wurde in den modernisierten Ausgaben geändert, ansonsten wurde dieses Buch jedoch recht wenig überarbeitet. In der Klasse sind sage und schreibe 50 (!) Schülerinnen (das Abitur machen jedoch ein paar Bände später nur 10), die Lehrerin ist Fräulein Hering. Annemarie freundet sich mit zwei Mitschülerinnen an, der braven Margot und der frechen Hilde - die beiden spielen die gleiche Rolle wie zu Hause Annemaries Brüder, der mustergültige Hans und der wilde Klaus. Annemarie fühlt sich zu beiden hingezogen, weil sie selbst eine brave und eine freche Seite hat. Annemarie wird eine gute Schülerin, das Lernen fällt ihr leicht, aber ach - ihr Temperament und ihre Schlampigkeit stehen ihr im Weg, denn nicht nur Leistung, sondern auch Ordnung und Betragen werden bewertet. In der Klasse gilt eine Rangordnung, bei der die Guten vorne und die Schlechten hinten sitzen.

Ich hatte, wie so oft bei Büchern dieser Art, gemischte Gefühle. Die Lehrerin ist nicht allzu streng, ich fand es sehr sympathisch, daß sie keine Gemeinheiten duldet (sie weist eine Schülerin zurecht, die sich über einen Schwerhörigen lustigmacht) und vor allem, daß sie Petzen ablehnt (sie nimmt lieber hin, daß die freche Hilde hinter ihrem Rücken Grimassen schneidet). Hier wird übrigens das Wort "Angeberin" noch in seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht, eine Angeberin prahlt nicht etwa, sondern sie petzt ("gibt an", was jemand getan hat). Vernünftig auch, wie sie damit umgeht, daß Hilde beim Diktat abschreibt - sie setzt sie einfach woanders hin, weit weg von allen anderen. Pragmatische Lösungen anstelle von Geschrei und Theater - das gefiel mir sehr. Eine Rangordnung, die schwache Schülerinnen bloßstellt, finde ich allerdings unmöglich. Daß Wert auf Ordnung und Benehmen gelegt wird, halte ich dagegen nicht für verkehrt; in einer Klasse mit 50 Kindern ist es wahrscheinlich unverzichtbar. Die Begründung für Margots ersten Platz bei Rangordnung hört sich jedoch an, als würde es nicht auch, sondern NUR um Sekundärtugenden gehen: "Dein nettes, artiges Benehmen, dein steter Fleiß und deine musterhafte Sauberkeit haben mir viel Freude gemacht." Die Form ist also wichtiger als der Inhalt. Auch Annemaries Mutter erklärt, Ordnung und Benehmen seien bei einem kleinen Mädchen "mehr wert als alle Sehr gut" - eine Aussage, die aus modernisierten Ausgaben verschwunden ist. Und ob einem die damaligen Sitten nun gefallen oder nicht, es ist auf jeden Fall interessant, etwas über den Schulalltag im Kaiserreich zu erfahren.

Annemaries Verhalten ist mir in diesem Band allerdings mächtig auf die Nerven gegangen. Sie ist nicht mehr so niedlich wie in Band 1, ich finde sie auch für heutige Begriffe ungezogen - sie redet dazwischen, setzt sich auf den Platz der Lehrerin, ißt im Unterricht, nimmt trotz Verbot eine Puppe mit auf den Schulausflug, entfernt sich mit Margot von der Gruppe, hält sich für die Klügste, sieht auf ihre Freundin herab, hält es für selbstverständlich, daß sie Klassenbeste wird und - ganz schrecklich - läßt ihren Kanarienvogel verdursten. Die Episode mit dem Vogel ist typisch für Mädchenbücher mit erzieherischem Anspruch: Die Heldin frönt einer unerwünschten Eigenschaft, alle Predigen verhallen ungehört, und am Ende passiert etwas Schlimmes - das aber auch wieder nicht allzu schlimm ist. In diesem Fall stirbt "nur" ein Tier, kommt ein Mensch zu Schaden, wird er natürlich wieder gesund (so in Band 3). Schuld am Tod des Vogels sind aber eigentlich Annemaries Eltern, die wissen müßten, daß eine unzuverlässige Siebenjährige mit der Versorgung eines Haustiers überfordert ist, egal, was sie beteuert und selbst glaubt.

Wie so häufig kann Else Urys einmaliger Humor eine Menge wettmachen. Das Buch ist witzig geschrieben wie alle Bände der Reihe, und meine Lieblingsstelle ist die hier:
»Wieviel Beine hat ein Schwein, Ilse?« wandte sich Fräulein Hering an die blondzöpfige kleine Ilse Hermann. »Vier Stück«, antwortete die richtig. »Alle Tiere haben doch vier Beine«, schrie es lachend dazwischen. Es war Marlenchen mit den schwarzen Haarschnecken. »So, Marlenchen, ei, sieh mal, wieviel Beine haben denn die Gänse und Enten?« »Natürlich vier«, rief die Kleine im Ton felsenfester Überzeugung. Die zehnte Klasse schien über diesen kühnen Ausspruch durchaus nicht verwundert. Die meisten der kleinen Stadtkinder waren genau derselben Ansicht wie Marlenchen."
Das liebe ich und möchte es immer Leuten vorlesen, die glauben, Kinder hätten heutzutage keinen Bezug mehr zur Natur ... Auch das ist der Wert altmodischer Bücher: Wer meint, früher sei alles besser gewesen, wird hier eines Besseres belehrt.

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