Else Ury: Nesthäkchen und ihre Puppen (Band 1)

Der Auftakt zur berühmten Nesthäkchen-Reihe von Else Ury. Hauptfigur ist die zu Beginn der Serie 6jährige Arzttochter Annemarie Braun. Sie lebt mit ihrem Vater Edmund (später in "Ernst" umbenannt), Mutter Elsbeth, den älteren Brüdern Hans und Klaus, der Köchin Hanne, dem Hausmädchen Frieda, dem Kindermädchen "Fräulein", dem Hündchen Puck und dem Kanarienvogel Mätzchen im Berliner Stadtteil Charlottenburg. Die Handlung spielt um 1910, also wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Kaiserreich.

Annemaries Vater ist ein vielbeschäftigter Arzt, die Mutter ist natürlich Hausfrau - daß sie als "Frau Doktor Braun" bezeichnet wird, obwohl sie nicht selbst Ärztin ist, finde ich irritierend, aber das war wohl so üblich -, jedoch keineswegs unterwürfig oder gefügig. Annemaries Eltern sind Gefährten, der Vater kehrt nie das Familienoberhaupt heraus. Die Mutter hat erstaunlich moderne Ansichten - so schickt sie ihre Tochter nicht auf eine Privatschule, sondern auf eine öffentliche Schule, gemeinsam mit dem Rest der Welt - und als Annemarie sich zu Hause langweilt, weil sie unterfordert ist, kommt sie in einen Kindergarten. Der älteste Sohn Hans ist ein Musterknabe, der jüngere Klaus hingegen ein Lausebengel, und Annemarie? Sie kann sich nicht richtig entscheiden, ob sie ein braves Mädchen ist oder nicht. Sie ist ein lebhaftes, aktives Kind, jedoch - zumindest in Band 1 - nicht wirklich ungezogen. Meistens gibt es Ärger, weil sie nicht nachdenkt - so läuft sie einmal von zu Hause weg, weil sie von der Musik des Leierkastenmannes fasziniert ist - und schneidet sich einen Zopf ab, der ihrer Puppe anwachsen soll, nachdem diese ihren Haarschopf verloren hat - eine sehr lustige Szene, und Annemaries Vater ist im Gegensatz zur Mutter auch nicht böse auf sie. Ein anderes Mal wünscht sich Annemarie Regen, und da sie gehört hat, daß dafür das Barometer "fallen" muß, hilft sie ein wenig nach ...

Die Kindererziehung entspricht natürlich nicht heutigen Vorstellungen. So wird Annemarie, nachdem sie von zu Hause fortgelaufen ist, von ihrer Mutter der Hintern versohlt - diese Szene wurde aus späteren Ausgaben gestrichen. Auch die Unsitte, daß Kinder beim Einkaufen Erwachsenen den Vortritt lassen müssen und ewig warten können, ist mittlerweile überholt, ebenso wie die anscheinend übliche Praxis, daß Kinder beim Kaffeetrinken keinen Kuchen bekommen, sondern nur das bekommen, was die Gäste übriglassen. Aber es waren ebene andere Zeiten - wer das nicht verkraftet, sollte die Finger von solchen Büchern lassen. Und historisch interessant ist es allemal. Von Modernisierungen heikler Stellen halte ich gar nichts, Kinder können m. E. begreifen, daß sich die Zeiten ändern. Und als Leserin will ich das lesen, was die Autorin geschrieben hat. Deshalb habe ich mir vor vielen Jahren die frühen Ausgaben aus Antiquariaten zusammengesucht. Das ist heute nicht mehr nötig, seit das Urheberrecht erloschen ist, sind die Erstausgaben online zugänglich. Eine echte Fundgrube!

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Elke Sauer: Ist das mein Kind?

Enid Blyton: Wirbel in Klasse 2 / Second Form at Malory Towers (Band 2)

Alexander Horn: Die Logik der Tat - Erkenntnisse eines Profilers