Else Ury: Kommerzienrats Olly

Else Ury ist bekannt als Autorin der noch heute populären Serie "Nesthäkchen". Ihre übrigen Werke sind - leider! - in Vergessenheit geraten, dabei sind auch sie überwiegend gelungen.

Rezension aus Deutschland vom 16. Oktober 2016 (Amazon.de)

Hauptfigur dieses Mädchenbuchs ist die zu Beginn der Handlung 16jährige Olly (der richtige Name wird nicht genannt - vielleicht soll sie wirklich so heißen) Hildebrandt, Tochter eines vielbeschäftigten Kommerzienrats und somit ein Mädchen aus reichem Haus. Ihre Mutter ist vor 5 Jahren gestorben, und Olly lebt zusammen mit ihrem Vater, den Brüdern Rudi und Herbert, der Schwester Senta und der "Hausdame" Fräulein Arnold in einer prächtigen Villa in Berlin.

Olly ist gewissermaßen der Gegenentwurf zum wesentlich bekannteren "Nesthäkchen" Annemarie Braun - eine echte "Antiheldin", häßlich, unbeholfen, grantig, unsportlich und eine grottenschlechte Schülerin (ihre besten Noten sind zwei Vieren, der Rest sind Fünfen und Sechsen - was ist das für eine Schule, fragt man sich, an der ein solches Mädchen die nächste Klasse erreichen kann?). Ihrer verzogenen kleinen Schwester Senta verpaßt sie eine hochverdiente Ohrfeige, als diese sich zuviel herausnimmt. Ein echter rebellischer Teenager also. Diese Darstellung wäre natürlich übertrieben, wenn die Autorin nicht zeigen würde, daß Olly auch anders kann - sie hat ihre liebenswerten Seiten, und sie kann auch bessere Leistungen erbringen - aber das Pech und ihre häufige Ruppigkeit bewirken, daß ihre Familie und ihre Lehrer nichts davon mitbekommen. Oft erlebt sie tatsächlich Ungerechtigkeiten, andererseits ist sie auch übertrieben empfindlich und wittert hinter jeden harmlosen Bemerkung böse Absichten. Olly fetzt sich mit wirklich jedem, Vater, Hausdame, Geschwistern, Mitschülerinnen und Lehrern. Ihr Vater wundert sich so sehr darüber, "wie er zu so einer Tochter kommt", daß man sich fragt, ob Olly vielleicht ein Kuckuckskind ist - aber so weit geht es in dem Buch natürlich nicht.

Der Leser oder wohl eher die Leserin ahnt natürlich, daß es nicht so bleiben kann. Auch hier kommt - typisch Mädchenbuch - die Wandlung in einem Pensionat, aber zu diesem Schritt entschließt sich der ratlose Vater erst spät. Im Internat kennt niemand Olly, Lehrerinnen und Mitschülerinnen begegnen ihr ohne Vorurteile, und sie hat die Chance auf einen Neuanfang, die sie glücklicherweise nutzt.

Einiges kommt einem aus den Nesthäkchen-Bänden bekannt vor, z. B. ein gefährliches Abenteuer am Strand, auf das sich zwei ungezogene Kinder einlassen. Oder Sozialarbeiterin als neuer Beruf für junge Frauen.

Ein spannendes Buch, und auch wenn man weiß, daß da Happy-End obligatorisch ist, kommen einem zwischendurch doch Zweifel. Und Olly unterscheidet sich wohltuend von den "Everybody's darlings", die die Hauptfiguren solcher Bücher meistens sind. Aber da Beste ist - wie immer - Else Urys unvergleichlicher Humor. So erfährt man z. B., was der neueste Ausdruck in der zeitgenössischen Jugendsprache ist - "zum Piepen"! Auf einem Tanzabend ist Olly natürlich das Mauerblümchen, und der Vater ihrer hochnäsigen Klassenkameradin kann es nicht mitansehen:

"Der gute Papa sprang ein. Er gesellte sich zu dem verlassen dastehenden jungen Ding und richtete freundliche Fragen an sie. Aber Olly war scheu und unzugänglich. Sie hatte solchen Respekt vor dem Herrn Hauptmann, daß sie kaum zu antworten wagte. Das rote Gesicht des Herrn Hauptmanns schwitzte wie bei der anstrengendsten Rekrutenübung. Hol's dieser und jener – ein Jüngerer würde schon eher den richtigen Ton mit der schwierigen jungen Dame finden! »Von Treuenfels, sind Sie schon Fräulein Olly Hildebrandt vorgestellt? Gute Unterhaltung, meine Herrschaften!« Ein auffordernder Blick des Vorgesetzten belehrte den jungen Leutnant darüber, was man von ihm erwartete. Es war derselbe, der sich Rudi gegenüber so schmeichelhaft über Olly geäußert hatte. Hauptmann von Buschen sorgte dafür, daß sie nicht völlig an ihrem Stuhl festwuchs. Er schickte all seine Leutnants nacheinander »an das schwere Geschütz«, wie die boshaften Jünger des Mars sein Kommando nannten."

Gelesen und gelacht!

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